Einleitung
 

Warum (wahrscheinlich) eine
allgemeine Theorie des Sehens fehlt

Grund 4: Sehen – das ultimative Problem der Erkenntnistheorie

Im Nebeneinander reduktionistischer Methoden verlief die Verästelung des visuellen Vokabulars naturgemäß nicht systematisch.

Zwar findet die Trennung der Forschungsansätze, wie gesagt, in der Literatur nicht annähernd so strikt statt wie oben unterschieden – seit langem strahlen gewonnene Erkenntnisse grenzüberschreitend in je andere Fachrichtung ab. Soweit ich es jedoch (aus meinem allerdings stark eingeschränkten Blickwinkel als Nicht-Wissenschaftler) überblicke, hat sich bisher auch aus methodologisch reflexiver und interdisziplinärer Forschung eine übergreifend systematisierte Terminologie visueller Phänomene nicht ergeben.

Man kann daher vermuten, dass die Möglichkeit einer solchen Gesamtschau nicht als ein Nebenprodukt spezialisierter und empirischer Forschung entsteht. In den systematischen Beziehungen von Sehfähigkeiten und ihren speziellen Phänomenen eine Gesamtgestalt Sehen zu suchen, ist wohl ein Erkenntnisziel eigener Art.

Insofern kann man erneut fragen: Warum fehlt eine systematische Theorie des Visuellen? Wurde das Ziel einer solchen Theorie bisher nicht angestrebt? Fehlt den verschiedenen Forschungsdisziplinen des Visuellen eine übergeordnete Theorie vielleicht nicht erst aus methodenbedingt verschiedenen Gründen, sondern aus dem bereits themenbedingt selben Grund? Bleiben möglicherweise, bei aller Diversität der Methoden und Ziele, die die Literaturen zum Sehen voneinander trennt, diese durch ein allen gemeinsames, tiefer liegendes Problem miteinander verbunden, das „in der Natur“ des Themas Sehen liegt? Welches vielleicht nicht klar genug erkannte Problem könnte es sein, das eine umfassende Theorie des Sehens bisher nicht hat entstehen lassen?

Ich vermute, dass tatsächlich auch ein solch prinzipieller, thematisch bedingter Aspekt eine Rolle spielt: Der Mangel an einer Theorie des Sehens lässt sich als ein solcher kaum empfinden. Weshalb: